Die Auflage der Fahrpläne 2022 und 2023 durch den ZVV zeigt neben der Pandemie-bedingten angespannten Finanzlage etwas Weiteres: Durch die Verkehrspolitik in Städten und Gemeinden – hier vor allem die Stadt Zürich – bläst dem lokalen öV ein rauer Wind entgegen. Aber jetzt von ungewohnter Seite, nämlich ausgerechnet von denjenigen, die den öV bis anhin vehement verteidigten und förderten. Durch Temporeduktionen auf öV-Achsen und die fast ausschliessliche Fokussierung auf den Fahrradverkehr wird das stärkste aller Transportmittel in städtischen Räumen zunehmend geschwächt. Die IGöV Zürich bedauert solche Strategien und wird sich – faktenbasiert – dafür einsetzen, diesen Trend zu bremsen. Dass die Pandemie tiefe Spuren beim öV hinterlassen wird und sich dadurch in einer ernsthaften Krise befindet, ist bekannt. Der ZVV schreibt den auch in seiner Medienmitteilung vom 8. März 2021: «Die Steuerzahler des Kantons und der Gemeinden müssen in den nächsten Jahren deutlich höhere Defizitbeiträge für ein fast unverändertes Angebot leisten.» Diese nicht direkt beeinflussbare Situation müssen wir einfach zur Kenntnis nehmen. Aber der öV darf nicht zusätzlich mit unnötigen Auflagen belastet werden. Dass schleichend am Abbau eines effizienten und effektiven öV gearbeitet wird, dürfen wir nicht hinnehmen. Bereits auf den Fahrplanwechsel 2021/22 betrifft das einige Buslinien und sogar eine Tramlinie; Fahrzeitverlängerungen oder Betriebseinstellungen aufgrund der Kosten sind die Konsequenz. Oder im O-Ton der ZVV-Medienmitteilung: «… die Auswirkungen von Temporeduktionen auf den öffentlichen Verkehr sind beträchtlich: Fahrzeiten und Reiseketten verlängern sich.». Eigentlich müsste man davon ausgehen, dass in Städten und Gemeinden an einer kohärenten Verkehrspolitik gearbeitet wird, die einen effizienten, sicheren Verkehrsfluss auf Schiene, Strasse und Fusswegen ermöglicht. Es geht dabei nicht darum, das Radeln oder Tempo30-Zonen schlecht zu reden. Beides gehört in eine lebenswerte Stadt. Aber es sollte zur Kenntnis genommen werden, dass der öV dass flächeneffizienteste Transportmittel in einer Stadt ist und auch mit einer gewissen Geschwindigkeit unterwegs sein muss. Selbstredend muss auch der öV innovativ bleiben und offen für neue Transportmittel, die uns – übers ganze Jahr – sicher und zuverlässig ans Ziel bringen. Die IGöV Zürich erwartet vor allem von Politiker/-innen der grössten Schweizer Stadt eine faktenbezogene Gesamtsicht um Verkehrsprobleme zu lösen. Es darf nicht um aufmerksamkeitsheischende Massnahmen gehen, sondern es muss die Wirkung zählen. Die IGöV Zürich wird ihren Beitrag leisten, die Leistung des Massentransportmittels öV in der Stadt zu erhalten und wieder zu stärken. KOMMENTARE 20.3.2021 Die Attraktivität des öffentlichen Verkehr begründet sich im Angebot, der Zuverlässigkeit sowie konkurrenzfähigen Reisezeiten. Die Reisezeiten setzen sich aus dem Weg zur Haltestelle, der Wartezeit, der Fahrzeit, allenfalls der Umsteigezeit sowie dem Weg zum Zielort zusammen. Im urbanen Raum sind die Auswirkungen von Tempo 30 auf die Reisezeiten gering. Auf die Attraktivität des öffentlichen Verkehr hat es wenig Einfluss, ob ich von Albisrieden in 27 oder 28 Minuten am Hauptbahnhof bin. Demgegenüber hat Tempo 30 umfassende Vorteile: Erhöhung Verkehrssicherheit, Lärm- und Schadstoffemissionen, Platzgewinn, Stadtraum, etc. Anstatt diese richtige und wichtige Massnahme zu bekämpfen, wäre es aus meiner Sicht wichtig, wenn der öV überlegt, wie er seine Attraktivität unter dieser Randbedingung erhalten und ausbauen kann. Das Aufbauen von Feindbildern und das Postulieren des Gegeneinanders erachte ich als nicht zukunftsorientierte Strategie. Rupert Wimmer, Co-Präsident SVI, Zürich--- 25.3.2021 Es ist kontraproduktiv, den öV durch Lärmschutzmassnahmen und Veloförderung auszubremsen. Die Reisegeschwindigkeit ist auch im städtischen Raum ein wesentlicher Faktor. Gerade der Bus, der nicht wie das Tram bereits durch kurvenbedingte Langsamfahrstellen verlangsamt wird, verliert bei einer Reduktion der Höchstgeschwindigkeit um mehr als einen Drittel massiv an Attraktivität. Das Tram fährt trotz leistungsstarker Fahrzeuge auf den klassischen Strassenbahnstrecken noch immer mit einer Durchschnittsgeschwindigkeit nicht höher als vor 100 Jahren mit den zweiachsigen Motorwägelchen. Eine Herabsetzung unter dieses Niveau ist nicht zu verantworten. Im Gegenteil ist eine Erhöhung der Durchschnittsgeschwindigkeit anzustreben, wozu nebst dem Verzicht auf das Ausbremsen die konsequente Weiterführung der Priorisierung des öV gehört. Urs Wenzel, Zürich --- 25.3.2021 Nicht nur in der Stadt wird wegen Tempo 30 gespart. Einige Landgemeinden verlieren stündliche und/oder attraktive Nachtverbindungen auf Kosten von neuen Nachtverbindungen (N1-3 in Winterthur oder N3 in Zürich) die bereits – gemäss Unterlagen zum Fahrplanprojekt – stündlich verkehren sollen. Dieser Ausbau auf Kosten von Landgemeinden soll und muss gestoppt werden. Gerade in dieser Pandemiezeit zieht die Bevölkerung wieder vermehrt aufs Land!!! Betroffene Landgemeinden: Adlikon und Dägerlen im Zürcher Weinland. Die zweit genannte Gemeinde ist der Gastgeber des zweitgrössten Breitensport-Events in der Schweiz im Jahre 2023, dem Kantonalturnfest Zürich. Das so eine Gemeinde in diesem Jahr eine unattraktive Nachtverbindung erhält ist sehr fraglich! Adlikon hatte bis vor dem Lockdown am Wochenende einen direkten Bus (N60) von Winterthur nach Adlikon. Künftig wird Adlikon in der Nacht nur noch zweistündig bedient mit Andelfingen – Adlikon – … Stammheim, obwohl der Nachtzug in Andelfingen jede Stunde anhält. Die Landbevölkerung ist so gezwungen, in jeder anderen Stunde, ein teures Taxi zu bestellen um z.B. von Andelfingen nach Hause zu kommen. Linus Meier, Adlikon --- 1.4.2021 Massgebend für das ÖV-Angebot ist die Bestellung des Auftraggebers (Kanton, Gemeinde, Fahrgast) bei vorgegebenen Randbedingungen. Wenn diese ändern, braucht es Finanz- und/oder Betriebsanpassungen: Politik und Anbieter sind auch hier gefordert. Robert Müller, VBZ-Ingenieur im Ruhestand
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Was befördert Fahrgäste mit hohem Komfort, hoher Zuverlässigkeit und höchster Sicherheit sowie Güter effizient bei einem minimalem Platzbedarf? Sie ist zudem seit über hundert Jahren elektromobil unterwegs, strukturiert den Siedlungsraum und ist für alle Menschen zugänglich. Es ist die Eisenbahn – und deren Rückgrat ist die Bahninfrastruktur mit ihren Gleisen, Brücken, Tunnels und Bahnhöfen. Sie rollt seit 200 Jahren auf ihren Stahlgleisen und «bietet sich als Mobilitätsträgerin der Zukunft geradezu an». Dieser Infrastruktur widmet sich das Buch «Bahninfrastrukturen» von ETH-Professor Ulrich Weidmann *) Ein Buch zur richtigen Zeit. In Zeiten wie dieser Pandemie kommen ja auch Zweifel auf, ob wir auf dem «richtigen Gleis» sind in der Mobilität. Aber Bahninfrastrukturen haben einen anderen Zeitplan, andere Zeiträume – hier wird nicht in Jahren sondern Jahrzehnten gerechnet. Weidmann baut die Struktur logisch auf, vom Planen, übers Entwerfen, Realisieren (Bauen) bis zum Erhalten. Gerade der letzte ist ein zentraler Punkt: Neue Bauwerke einweihen ist das eine – kein Politiker lässt sich das entgehen – den Strukturerhalt zu erklären etwas anders.Nach der Wende 1989 zeigte sich exemplarisch, wie verschieden Ost- und Westdeutschland mit (Verkehrs)Infrastrukturen umgegangen ist. Aber auch in Italien, Frankreich oder den USA liegt der Unterhalt der Verkehrsinfrastruktur teilweise im Argen. Und bei dieser Modernisierung geht es nicht um «Milliönchen» sondern um hunderte und tausende Milliarden Franken die allein in Europa für den Erhalt/Ersatz nötig sind – und damit auch um ein grosses volkswirtschaftliches Kapital. Das über 600-seitige Werk, welches überarbeitete und aktualisierte Vorlesungsunterlagen, Vorträge und Publikationen zusammenfasst, wendet sich primär an Ingenieure, Wissenschafterinnen und Student/-innen. Es soll den Einstieg in die vertiefende Fachliteratur erleichtern. Es gibt jedoch für interessierte Laien – zumindest in den einleitenden Kapiteln – bedenkenswerte Gedanken und Ausführungen zum Transportmittel Bahn. Eine Grafik zur Entwicklung der europäischen Schienennetze im Normal- und Schmalspurbereich über die 200-Jahre Bahngeschichte veranschaulicht den Wandel im Verkehrswesen. Im 19. Jahrhundert wurden vor allem Infrastrukturen für die Normalspur aufgebaut, in der zweiten Hälfte auch die Strassenbahnen in den grossen Städten. Interessanterweise erlebten die U-Bahnen erst um 1950 einen grossen Bauboom. Mit dem Ausbau der Strasseninfrastruktur in diesen Jahren wurden auf Regional- und Nebenstrecken zunehmend Bahn- und Überlandstrassenbahnen durch Busse ersetzt. Im letzten Quartal des 20. Jahrhundert kamen dagegen Trams ausserhalb der Kernstädte auf – sogenannte Stadtbahnen. Und Schienen sind «beständige ortsfeste Einrichtungen»; sie sind weit mehr als die Fahrbahn für einen Zug oder ein Tram. Sie bieten eine langfristige Investitionssicherheit und gestalten damit den Siedlungsraum mit. Interessant sind auch drei Stärken des Transportsystems Stahlrad-Stahlschiene, die Weidman in der Einführung aufführt und hier gekürzt aufgelistet sind:
Erstens ist die Bahn «das schnellste netzbildungsfähige Landtransportmittel» und mit Hochgeschwindigkeitszügen «auf Distanzen bis etwa 700 km konkurrenzlos». Zweitens bieten «Bahnsysteme die höchste Beförderungskapazität pro Verkehrsfläche», was vor allem auch in städtischen Räumen ein grosser Vorteil ist. Und drittens «ist die Bahn extrem effizient bei grösseren Gütermengen über lange Strecken». Auch wenn die Bahn heute von digitalen Systemen gesteuert wird, sollten wir nicht vergessen, dass die ICEs, IR, S-Bahnen und Trams letztlich analog/physisch wie die ersten Bahnen vor 200 Jahren unterwegs sind. Und dass die Rollmaterialbeschaffung ähnlich wie das Bereitstellen der Infrastruktur eine eher langfristige Angelegenheit ist. «Kurz: Die Eisenbahn bietet sich als Mobilitätsträgerin der Zukunft geradezu an. Im 19. Jahrhundert entstanden, vor fünfzig Jahren totgesagt, hat sie im 21. Jahrhundert eine klare Mission, denn eine nachhaltige Welt ist ohne die nachhaltige Bahn undenkbar – leistungsfähig, sicher, zuverlässig, umweltfreundlich.» postuliert Weidmann im Vorwort zu Recht. *) Ulrich Weidmann ist ein ehemaliger «SBB-Bähnler», promovierter Bauingenieur, Professor für Verkehrssysteme am Institut für Verkehrsplanung und Transportsysteme (IVT) und seit 2016 ETH-Vizepräsident. Das Buch ist im vdf Hochschulverlag und im Buchhandel erhältlich oder als e-book, zur Ausleihe über die Bibliotheken. Wer ausserdem weniger technisch dafür musisch etwas zur Bahn erfahren möchte, dem sei der Kunstband «Die Eisenbahn in der Kunst» von Hugbert Flitner empfohlen. Erschienen im Verlag Ellert&Richter, Hamburg 2020. |
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